Rummelsburger Bucht
Hier empfängt das neue Berlin und es braucht viel Platz. Allen Verdichtungsdebatten zum Trotz simuliert der Raum zwischen den Wohnbauten ländliche Weite, so als gäbe es im unmittelbaren Umland nicht genug davon. Provokant parken die privaten PKWs direkt neben den Eingangstüren und signalisieren die Entschlossenheit, einen Lebensstil zu verteidigen, der jeder urbanen Vernunft widerspricht. Doch was soll die Berufung auf Urbanität, wenn alle Signale auf Rückzug vom Städtischen stehen. Die „Bucht“ verspricht den See und das Meer und tatsächlich stellt sich Strandpromenadengefühl ein, wenn man zum ersten Mal an das Ufer tritt. Doch das Restaurant schließt früh und der Inhaber verweist auf die Frage nach einer Alternative nur darauf, von irgendwo „da drüben“ immer Musik zu hören. Ein in den Plänen verzeichneter Hochseilgarten ist abgewandert. Am Feierabend joggen die Vollzeitbeschäftigten und erhalten damit ihre Vollzeitbeschäftigungstauglichkeit.
Buchberger Straße
Von der Frankfurter Allee abzweigend beginnt die Buchberger Straße mit einem Baumarkt. Seine Dimensionen geben einen Eindruck davon, dass in der Umgebung viele SelbermacherInnen leben müssen. Das eigene Werken stellte seit jeher eine attraktive Option für die ökonomisch Fragileren dar – lange bevor es von den neuen Prekären zum DIY hinaufveredelt wurde. Die Straße folgt der gekrümmten Bahntrasse. Dieser Halbkreis verleiht dem Viertel südlich der Frankfurter Allee eine Rahmung, die zugleich abschottend ins Innere wirkt. Neben einer Bauruine verspricht ein Wahlplakat „Aufschwung sichern – Arbeitsplätze schaffen“. Man hofft wohl auf das endgültige Ende jenes Trends, der 2003 dazu führte, ein Schulhaus „mangels Nachfrage“ abreisen zu müssen. Am Ende der Straße liegt die vom Stadtteilzentrum „Kiezspinne“ betriebene Metall-, Holz- und Druckwerkstatt, die den AnwohnerInnen für eigene Vorhaben zur Verfügung steht.
Im Oval
Die Hauffstraße, die Türrschmidtstraße und die Marktstraße umfassen eine zur Gänze von Bahntrassen umschlossene Enklave. Hier herrscht jener alternative Aufwertungsgeist, der sich in Goldschmiedwerkstätten, Weinkultur und Filzwerkstätten ebenso äußert wie in der Ablehnung von Aufwertungsprozessen. Folgerichtig ist Moutare, die Filz- und Textilwerkstatt, in einem Haus angesiedelt, das durch das Mieter*innenkollektiv und das Mietshäuser Syndikat errichtet und somit der Immobilienspekulation entzogen worden ist. Das Objekt verweist damit auf unmittelbare Nachbarschaftsgeschichte: In der nur wenige Meter entfernten Pfarrstraße wurden 1998 die letzten Berliner besetzten Häuser geräumt. Eine andere Form lokalen Geschichtsbewusstseins zeigt sich in der Benennung des Tuchollaplatzes nach dem Widerstandspaar Käthe und Felix Tucholla, die 1943 in Berlin Plötzensee hingerichtet wurden. Das nordwestliche „Eck“ des Ovals belegen Bürogebäude auf großen Arealen, genutzt von der Deutschen Rentenversicherung und der Deutschen Post. Diese öffnen sich jedoch nur ungenügend gegenüber der sie erhaltenden Öffentlichkeit.
Tierpark
Etwas mehrfach Demokratisierendes liegt in der Luft: Ein Schlossgarten wird zum Park und statt den feudalen NutzerInnen lungern jetzt die Bisons im Gras. Die Bimmelbahn zieht vorbei und die Känguruhs hüpfen. Ein Wermutstropfen, dass dies für eine vierköpfige Familie mit einem Eintrittspreis von 35 Euro verbunden ist. Und da wurden das Eis und die gebrannten Mandeln noch gar nicht spendiert, die später bei einem recht altmodisch wirkenden Kiosk entdeckt wurden. Wie bei den Kindern herrscht auch bei den Großkatzen Aufregung vor der Fütterung. Der Sumatratiger führt vor, warum es „herumtigern“ heißt, wenn jemand rastlos hin und her läuft. Bei den meisten anderen Tieren hat man den Eindruck, dass sie die Vollversorgung in ihren Großgehegen zu entspannten Müßiggängern macht, doch dem Sumatratiger merkt man genau an, dass er ständig überlegt, wie er seinem engen Verlies entkommen könnte. Die Zehntelsekunde, die er braucht, um ein durch die Klappe geschobenes kiloschweres Futterfleisch zu schnappen, wäre wohl ausreichend für eine Attacke, wenn die Freiheit die Belohnung dafür wäre. Es verwundert dann überhaupt nicht mehr, im Anschluss daran zu lesen, dass in den letzten Jahren mehrmals Tierpfleger von Tigern in Zoos getötet wurden.
Malchower See
In den Wohnanlagen Lichtenbergs ahnt man bereits die Nähe von Heide, Feld und Wiese. Schon innerhalb der Stadtgrenzen schiebt sich jede Menge Grün und Braun zwischen die Türme und an vielen Orten könnten hier die Gurken angebaut werden, die so häufig angeboten werden. Hier wuchs die Stadt ins Land und zugleich nahmen die Planenden großzügige Anleihen am grünen Repertoire. Nun – mehrere Jahrzehnte nach Planung und Gestaltung – wächst ineinander was aneinander lag. In Wartenberg, in Ahrensfelde, in Falkenberg oder Malchow liegen die Großwohnanlagen nur einen Steinwurf entfernt von früheren dörflichen Kernen. Landwirtschaft, Erholung, Industrie und Wohnen gehen ineinander über. Mitten in einem feuchten Sommer ist leicht vorstellbar, wie schnell hier alles zuwachsen würde, sollten die Menschen einmal fehlen. Doch noch sind sie hier, und es braucht keine fünf Fahrradminuten, um von der Wohnanlage an das Ufer des Malchower Sees zu fahren. Ganz kurz liegt wieder der Geruch dieser endlosen Sommer in der Luft: Die Sonne steht tief, zwei Jungen laufen in Badehose aus dem Wasser und vom Ufer hört man Lachen.
Hauptstraße
Zuerst an der falschen Adresse. Ein leerer Innenhof mit fünf Lampions. Die Hauptstraße zeigt sich auch in der Nacht ähnlich nichtssagend wie am Tag. Im Norden die alten Wohnbauten und im Süden die Außenlinie des Rummelsburger Wohntraums, der wohl sehr gerne Gated Community wäre. Dann also zurück, vorbei an einzelnen Abendtrinkern, Hundehaltern und Lieferdiensten. Der nächste Anlauf mit neuer Adresse führt tiefer in die Straße hinein, wo das neue Wohnen endet und die alte Arbeit beginnt. Ein von der Straße einsehbarer Druckereibetrieb läuft auch am Sonntag Abend auf Hochtouren. Bald wird hier aus der Hauptstraße die Köpenicker Allee, doch bevor diese sich wieder bewohnbarer zeigt, müsste man erst eine lange Strecke entlang des Kraftwerk Klingenberg passieren. Doch kurz davor nimmt die Frequenz junger Menschen zu, Fahrradgrüppchen formieren sich und diesmal stimmt die Adresse. Verwirrend, dass niemand dort steht, wo eine Schlange zu erwarten gewesen wäre. Dem Novizen muss erst die ordentliche Warteposition vermittelt werden, ein Umstand der die Ausgangsposition für das bevorstehende Bewerbungsgespräch jedoch verschlechtert: Als allererster des Abends in der Warteschlange zu stehen, fühlt sich an, wie ein Schild zu tragen auf dem groß „Ich bin zu alt“ steht. Die Sache nimmt ihren vorhersehbaren Lauf und nach ein paar Einstiegsfragen versenke ich meine Chancen endgültig mit der wahrheitsgemäßen Antwort vielleicht einen Text über den Bezirk schreiben zu wollen. „Du schreibst einen Text. Ach neeh, weißt du, duu kannst es gerne an einem anderen Taag wieder probieren, doch wenn duu nicht so elektroaffiin bist, weißt du, Sonntags ist hier eher so familiär und da passt das nich sooo …“ Ich werde ihm beim nächsten Mal vorschlagen, dass er auch einfach „nicht bestanden“ sagen könnte.
Im Stadtmuseum
Rundgänge in Lichtenberg führen beim zuerst österreichisch verdrängend, dann westlinks sozialisierten Beobachter ohne DDR Erfahrung zu Ostalgie. Die Prominenz der antifaschistisch motivierten Benennungen, die sichtbar starke Rolle öffentlicher Infrastruktur, eine gewisse Gemütlichkeit in den Wohnanlagen und die mittlerweile heimelige alte industrielle Infrastruktur nehmen rasch für den Stadtteil ein. Dazu verlieren die Hinweise auf sozialistische Erinnerungsstätten, historische Nicaragua-Wandgemälde, großzügig dimensionierte Jugendtheater und nicht zuletzt die Stätte der Kapitulationserklärung vom 8. Mai 1945 und die vielen kleinen Sowjetdenkmäler nicht ihre Wirkung auf den Betrachter. Noch dazu dort, wo sie mittlerweile von einer attraktiven Schicht alternativen Stadtlebens überzogen werden. So würde man wohl am liebsten leben: Ernährt vom eigenen Laden, beschützt vom kommunalen Wohnen, eingebettet in internationale und nachbarschaftliche Hilfe und zugleich frei in Wahl und Auswahl von Gott, Kaiser und Vaterland. Da ist es dann doch ein notwendiger Ausgleich, wenn die Ausstellung im Erdgeschoß des Stadthauses von den Traumatisierungen eines Kindes im Heimsystem der DDR und den Erfahrungen eines inhaftierten Fluchthelfers berichtet.
An den Bahnen
Lichtenberg ist reich an Bahnhöfen und Bahntrassen. Im gesamten Bezirk sorgt deren Verlauf für geschwungene Abweichungen vom hier ohnehin kaum gerasterten Stadtplan. Im Süden formen die Dämme zwei markante Schleifen rund um die Viktoriastadt im Westen und Friedrichsfelde im Osten. Südöstlich darunter entsteht durch den Bahnverlauf ein Dreieck für Karlshorst, während sich die S-Bahnen vom Bahnhof Lichtenberg nach Norden zuerst noch ausdrucksstark in die Kurve legen, bevor sich ihre Route auf dem Weg nach Brandenburg begradigt. Hinzu kommen unzählige Abzweigungen, Nebenstrecken, Versorgungsgeleise und andere Bahninfrastrukturen, sodass es unmöglich ist, im Bezirk längere Strecken zurückzulegen, ohne an oder unter Bahntrassen zu gelangen. Aus dieser Situation entsteht ein Reichtum an Restflächen, Dämmen, unbebauten Flächen und unternutzten Infrastrukturen, in dem das Berliner Klischee von den phantasieanregenden Brachlandschaften noch einmal furios zur Geltung kommt.
Malchower Weg
Ach Berlin! Du hast für alles so viel Platz. Wo der erste Blick auf die radial verlaufenden Straßen eine weiterer Variante der bezirkstypischen Wohnanlagen vermuten lässt, zeigt sich beim Befahren des Malchower Wegs hinter dem 200 Meter langen Hansa-Center unvermittelt eine reichhaltige Musterkollektion verschiedenster Einfamilienhäuser, die hier seit den 1930er Jahren zu finden sind. Westlich davon stehen immerhin 24 Hektar Naturschutzgebiet (Fauler See!) zur Verfügung, an das dann großzügige Sportanlagen anschließen. Im Osten widmen sich die NutzerInnen der Kleingartenanlage „Land in Sonne“ ihrem Grün, und man erkennt zum wiederholten Mal, dass der „Osten“ eben keine Tabula Rasa war, die ab 1951 von Plattenbauten belegt wurde, sondern ein heterogener Teil einer teils zerstörten mitteleuropäischen Großmetropole. Der Clou der Siedlung sind ihre Straßennamen. Rund herum finden sich Benennungen nach männlichen Vornamen, nach Ortsnamen und Benennungen nach Politikern, doch in der Mitte überdauerten 10 Straßen den eigentumsfeindlichen Sozialismus. Sie führen auch heute ihre Namen aus den 1930er Jahren, die jedoch in Zeiten von Gated Communities nun wieder seltsam in die Zukunft weisen: Die öffentlichen Straßen im Zentrum von Ostberlin heißen: Privatstraße 1, Privatstraße 2, Privatstraße 3, Privatstraße 4, Privatstraße 5, Privatstraße 6, Privatstraße 7, Privatstraße 8, Privatstraße 9 und Privatstraße 10.
Skandinavische Straße
Zur Entstehungszeit dieses Texts prüft das Landesdenkmalamt Berlin die Möglichkeit zur Unterschutzstellung des sogenannten Nicaragua Gemäldes an der Fassade des Hauses Skandinavische Straße 27. Folgt man den Spuren dieser Geschichte, entsteht ein berührendes, aber auch unfreiwillig komisches Panorama des Schicksals eines Kunstwerks im öffentlichen Straßenraum über Systembrüche und politisch-ökonomische Wendungen hinweg. Das Werk „Nicaraguanisches Dorf – Monimbó 1978“ stammt aus dem Jahr 1985 und wurde damals – im Auftrag des Magistrats von Berlin und des Kulturministeriums der DDR – vom nicaraguanischen Künstler Manuel Garcia Moia als Erinnerung an den Ort seiner Kindheit, vor allem aber als Ausdruck der Solidarität mit der sandinistischen Revolution gestaltet, die unter anderem von einem blutig niedergeschlagenen Aufstand in Monimbó ihren Ausgang nahm. 2003 wurde das Haus – nunmehr in privatem Besitz – thermisch saniert, womit das Gemälde unter der neuen Dämmung unsichtbar geworden wäre, hätte sich nicht eine private Initiative gebildet, die ausdauernd genug war, um die Mittel für die Herstellung einer – von Manual Garcia Moja autorisierten Kopie durch die Künstler Gerd Wulff und Max Michael Holst zu sammeln. So zeigte sich das Gemälde im neuen Glanz (heute noch auf Google Street View aus dem Jahr 2012 zu sehen), bevor die Neuschöpfung 2013 plötzlich wieder verschwand, da Schäden am Putz eine neuerliche Totalsanierung der Fassade notwendig machten. Doch das Blatt wendete sich zuletzt ein weiteres Mal, als nach einer Entfernung der Dämmschicht wieder das – nunmehr dreißigjährige und teilweise beschädigte – Originalgemälde zum Vorschein kam. Die Hartnäckigkeit des Werks findet ihre Entsprechung in der nun erneut motivierten Initiative, die bereits einmal für den Erhalt gekämpft hatte und seit 2015 wieder aktiv wurde. Doch das Fundraising im Jahr 2016 ist schwieriger als beim ersten Mal, weswegen nun – im August 2016 – die Hoffnungen auf dem Landesdenkmalamt und den mit einer möglichen Unterschutzstellung verbundenen Fördermöglichkeiten liegen.
Studio im Hochhaus
Als rationalisierungsgewohnter Kulturbeobachter glaubt man es kaum. Wie ein kleines Wunder zeigt sich da mitten in der Großwohnanlage an der Grenze zu Brandenburg die kommunale Galerie Studio im Hochhaus und sie ist auch am Montag geöffnet. Die eigene Verwunderung zeigt, wie weitgehend wir im Verlauf der letzten Jahre der Vorstellung einer selbstverständlich bereit gestellten kulturellen Infrastruktur entwöhnt wurden. Natürlich hat die Galerie geöffnet, denn sonst könnte sie ja nicht besucht werden. Die Erdgeschoßgalerie mit ihrer schönen Aufschrift und den sympathisch geschnittenen niedrigen Räumen wirkt wie eines jener hippen Interventionsprojekte an der Schnittstelle von Urbanismus, Kunst und Soziokultur, die für eine bestimmte Zeit ihre Zelte in dezentralen Lagen aufschlagen und die meist im Zusammenhang mit temporären Festivals oder Sonderprojekten stehen. Doch das Studio im Hochhaus gibt es seit mehr als einem Vierteljahrhundert als offizielle Einrichtung des Bezirks: Gegründet 1990 als Kunst- und Literaturwerkstatt widmete es sich laut Eigenaussage der „Zusammenarbeit zwischen jungen internationalen Künstlerinnen und Künstlern, KulturarbeiterInnen und dem an den damaligen gesellschaftlichen Prozessen interessierten Publikum aus dem Bezirk und weit darüber hinaus.“ Wir stellen mit Befriedigung fest, dass es dies – bei weit geöffneten Türen – auch weiterhin macht.
Im Studio Lichtenberg
Diese Texte entstanden in den Lichtenberg Studios, einem dieser wertvollen Orte, die wir manchmal voraussetzen, ohne daran zu denken, dass es eines Einsatzes bedarf, sie zu schaffen, oder – was heute häufiger notwendig ist – für ihren Erhalt einzutreten. Das schöne Wohnatelier mit Blick auf den Tuchollaplatz hat dabei eine Besonderheit, die zugleich eine Verpflichtung darstellt: Als Teil des Stadthauses liegen die Räume direkt über dem Bezirksmuseum und über anderen Räumen, die dem lokalen Kulturschaffen gewidmet sind, wie einer Trickfilminitiative und Verwaltungsbüros. Hier Gast zu sein, bedeutet also Gast der Kommune zu sein. Zugleich verschafft die Lage im letzten Geschoß eines öffentlichen Gebäudes mit eigenem Aufzugszugang und ohne nächtliche Nachbarn eine eigenartig privilegierte Stimmung, die zwischen Penthouseblick und Leuchturmwärtergefühlen pendelt. Es ist eine sorgsame Balance zwischen Privileg und Bescheidenheit, die das informell gehaltene Residencyprogramm auszeichnet. Und dafür sorgen Menschen wie Uwe Jonas, der Kurator und „Host“ der Studios, der nicht nur viele Künstler und Künstlerinnen kennt, sondern auch weiß, dass es für gute Stimmung sorgt, wenn Betten bereits bei Ankunft bezogen sind und die Gäste persönlich begrüßt werden; er vergisst aber auch nicht darauf hinzuweisen, dass man die im Geschoß darunter Arbeitenden akustisch doch schonen möge und dass Mülltrennung wichtig ist. Und dann gibt er einem die Schlüssel für Raum und Rad und lässt einen in Ruhe. Kurator kommt von Wissen, Sorgen und Kümmern. Danke Uwe!