Gertrud Neuhaus

Wie es der Zufall so will, nehme ich als Lektüre einen Roman eines amerikanischen Schriftstellers mit, der außerdem einen Gedichtband mit dem Titel „Die Lichtenbergfiguren“ veröffentlicht hat (und dafür übrigens den Preis der Stadt Münster für internationale Poesie erhielt). Es geht um einen Kunststipendiaten, den der Verdacht quält, dass er eine ebensolche Fälschung ist wie seine nach dem Zufallsprinzip komponierten Gedichte. Ich lese „Abschied von Atocha“ am ersten Tag zu Ende.

Kurz vor der Dämmerung verlasse ich das Sofa und platziere mich auf einer Bank vor einem Hochhaus, schaue lange den Heimkehrenden zu. Je länger desto mehr Fenster erscheinen. Weißt du, wieviele Lichter? Ich zähle sie nicht, sondern sitze noch eine ganze Weile, unsichtbar im Dunkeln.

Die Lichtenberg-Figuren haben nichts mit Lichtenberg zu tun, sondern mit Lichtenberg, einem Pysiker, der sie am 4. Februar (dem Geburtstag von Ben Lerner) 1778 entdeckte.

Zwischen dem 18.12. 2015 und dem 3.1. 2016 kommt es in Lichtenberg zur Ausbildung von positiven und negativen Ladungen. Ich verschwende mich in jede Richtung, was sich durch einen Random Walk Prozess beschreiben lässt. Dies führt zu typischen charakteristischen Verästelungen und der Entstehung fraktaler Muster. Die Ladung breitet sich tatsächlich zufällig aus.

Lasse mich treiben, spaziere seelenruhig und unbeirrt durch Lichtenberg, schaue oben und unten. Kehre in Eckkneipen ein und trinke Bier in seltsamer Gesellschaft. Setze mich ein Stück in die Bahn. Wandere wieder über Stadt Land Fluss. Es ist alles da. Wunderschöne Landschaft, unterschiedlichste Wohngegenden. Viele kleine und schöne Gegebenheiten. Unzählige Geschichten und Bilder. Manches bleibt und alles wächst. Es gibt so viel zu sehen (und tausend Möglichkeiten, damit zu arbeiten). Aber ein künstlerischer Eingriff erübrigt sich, kommt mir geradezu lächerlich vor, bei der Fülle. Wirklich!

Während der Dämmerung halte ich mich gern inmitten der Plattenbauten auf und fühle mich geborgen zwischen all diesen hohen Häusern, als wäre ich umgeben von Bergen in einem Tal.

Manchmal folge ich verschiedenen Leuten –meist sind sie allein oder zu zweit und fast immer mit Einkaufstüten- auf all diesen Wegen und Trampelpfaden zwischen den Gebäuden, vorbei an Bepflanzungen und Spielplätzen. Ich fühle wie sie, als hätte ich ein Ziel; als ginge ich nach Haus.

Einmal, nachdem ich zunächst angenommen hatte, dass die Haustüren dieser riesigen Häuser immer geöffnet sind, schlüpfe ich mit einem Bewohner in ein 17-stöckiges Haus, fahre mit dem Aufzug ganz nach oben und genieße die Aussicht auf einem kleinen Balkon. Durch das Treppenhaus gehe ich Stock für Stock wieder runter. Halte inne und beschrifte meine Weihnachtskarten mit persönlichen, guten Wünschen und werfe sie schließlich in einige der vielen Briefkästen. In den nächsten Tagen bestücke ich wahllos noch viel mehr Briefkästen anderer Plattenbauten, aber es ist ein Fass ohne Boden; ein riesiger Schlund, in dem alles wie nichts verschwindet.

Zu Sylvester ist hier aber leider so gar nix los! Das hatten wir uns anders vorgestellt: Wir hatten uns viel Trubel, Böllerei und großartiges Feuerwerk gewünscht bei den Plattenbauten, wo doch so viele Menschen wohnen! Es ist aber n i e m a n d auf den Straßen zu sehen, Lichtenberg scheint ausgestorben. Erst nach langem Umherirren zwischen vielen Hochhäusern treffen Annette und ich an der Frankfurter Allee Richtung Friedrichshain auf Feiernde, denen wir unsere Glückskekse anbieten können, aus einem großen Korb. Es stecken Aphorismen drin, denn besonders dafür ist der Physiker Georg Christoph Lichtenberg heute bekannt. „Wohin mich mein Schicksal und mein Wagen führt.“ „ Er hatte seinen beiden Pantoffeln Namen gegeben.

  

Juni, 2018