Klaus Hartmann

In den letzten Jahren ist eine Gruppe von Gemälden entstanden, die sich mit Postkartenmotiven beschäftigt. Dies war der Grund für die Einladung der Lichtenberg Studios mit der Anfrage, ob ich bereit wäre, zehn Gemälde über den Stadtbezirk zu malen.

Als Kind sammelte ich Postkarten. Ich wuchs in der DDR auf. Meine Eltern hatten familiär, durch Freunde und den Beruf meines Vaters, er war Pfarrer, zahlreiche Kontakte in das sozialistische und westliche Ausland. So erhielten wir Postkarten aus aller Herren Länder. Im Rückblick hatte ich gedacht, es war das Fernweh und die Beschränkung der Möglichkeit zu reisen, die mich dazu animierten, Postkarten zu sammeln. Aber ich glaube es waren auch unbewußt formale, gestalterische und ästhetische Gründe, die mich faszinierten. So interessierten mich, parallel zu den Motiven, die Grafiken auf den Rückseiten der Karten und die unterschiedlich gestalteten Ränder. Mein besonderer Stolz war eine mehrteilige Karte vom Flughafen Montreal in Form eines vierblättrigen Kleeblattes mit knallroten Rändern und eine Eisbären-Karte aus Kamtschatka. Das Motiv der Eislandschaft war quadratisch, die Karte ein Hochformat mit einem weißen Streifen am unteren Kartenrand. Die sowjetischen Karten waren, im Kontrast zu den knallbunten Hochglanzkarten aus dem Westen, meist blass und matt mit sehr seltsamen Farbverschiebungen. Die Farben wirkten ausgewaschen oder von der Sonne gebleicht. Diese spezielle Farbigkeit hatte aber auch seinen besonderen Reiz.

Auf meinen Streifzügen durch Lichtenberg entschied ich mich für folgende Motive: die Schwimmhalle Sewanstraße, einen Blumenladen in Neu-Hohenschönhausen, Flamingos im Tierpark Friedrichsfelde, ein Haus am ehemaligen Schwimmbad Rummelsburg, Enten am Malchower See, die Trabrennbahn Karlshorst, die Skaterbahn Fennpfuhl, eine Fotografie aus dem Stasimuseum Normannenstraße, das Dong Xuan Center und die Kleingartensparte „Am Hechtgraben“ an der Endstation der Straßenbahn Falkenberg.

Trotz der Offensichtlichkeit aller Motive verbergen sich hinter jedem Motiv Geschichten, die über Lichtenberg erzählen. Ab und zu entwickeln meine Bilder ein Eigenleben, so dass man am Ende nicht mehr sagen kann was Fiktion oder Dokumentation ist, so z.B. bei dem Motiv der Frauen im Boxring, welches ich in einem absurden Buch im Stasimuseum Normannenstraße als Beispiel westlicher Dekadenz fand. Auf meinem Gemälde erscheint dieses Motiv in Kombination mit dem Schriftzug „Liberated forever – Domesticated never“. Dieses Logo stammt von einem Handtuch im Dong Xuan Center, dem größten Asia-Markt in Berlin. In dem Bild der Flamingos fällt das seltsame Licht auf. Es ist entstanden nach einem Schnappschuss, im mit Kunstlicht gefluteten Winterquartier der Vögel im Tierpark Friedrichsfelde. Das Bild steht für mich in Korrespondenz zu den wunderbaren, mit exotischen Vögeln bemalten Papiertapeten im Schloss Friedrichsfelde. Das freistehende kleine Gebäude eines Blumenladens in Neu-Hohenschönhausen an einem trüben Wintertag vor einem Plattenbau erzählt über das Zusammenleben der Bewohner in einem Neubaugebiet, seinen Einkaufsmöglichkeiten und darüber, sich das Leben ein wenig schöner zu gestalten. Es ist nicht machbar, die zahlreichen Facetten Lichtenbergs anhand von zehn Gemälden darzustellen, aber die malerische Auseinandersetzung mit dem Medium der Ansichtskarte gab mir die Möglichkeit, ein Stück Alltag in Lichtenberg festzuhalten.

November, 2020