Ralf Homann

Weiße Turnschuhe, rosa Söckchen, dazu Denim-Rock in rotem Schotten-Muster. Kurzhaarschnitt wie einst Erika Mann vor 100 Jahren. Als Schoßhund an der Leine läuft ein weißer Minipudel aufgeregt oder vielleicht auch nur jung hin und her. Was mir ebenfalls auffällt: Große Ohrringe (wie sie im Münchner Kommunalwahlkampf bei den Grünen beliebt waren). Die Sonnenbrille ist ins Haar geschoben. Am Berliner Ostkreuz warte ich auf den Anschluss Richtung Ahrensfelde und beobachte meine Mitreisenden. Es ist nicht mehr weit, nur noch eine Station zum Nöldnerplatz. Dort in der Nähe sind die Lichtenberg Studios, in denen ich während meines Aufenthaltes in Berlin untergebracht bin. Gästewohnung im obersten Stock des Stadthauses und des Lichtenberg-Museums. Die S-Bahn hat Verspätung. Auf Grund eines Polizeieinsatzes, Höhe Warschauerstraße. Also weiter schauen: Polierte Glatze und gestutzter Vollbart, nackte Oberarme zeigen die Tätowierungen, schwarze schlabbrige Sporthose mit roten Galonstreifen oder Lampassen, je nachdem wie mensch es interpretieren möchte, dazu T-Shirt mit Union Jack. Seine Begleiterin: Schwarze Nikes mit üblichem Logo in weiß, Kleid bis knapp oberhalb des Knies, Strohhut, ein schwarzes Säckchen, aus dem rote Kabel zu den Earphones führen. Blonder Bubikopf. Eine ältere Frau spricht sie an, alle drei reden, die ältere hat lange graue Haare, und einen hellblauen Pulli. Sie humpelt leicht am linken steifen Bein. Sie trägt eine Umhängetasche. Sie schnorrt. Und zieht weiter zu einem Menschen mit weißen Shirt überm Kleid, unter dem Kleid eine längsgestreifte Hose mit aufgesetzten Taschen, die im Licht zwischen weiß und silber changieren. Dazu trägt er oder sie oder wie auch immer einen richtig teuren Marken-Rucksack fürs Hochgebirge. Aus dem lugt eine Backpapierrolle. Die ältere Dame humpelt nun weiter. Im Gegensatz zu ihr ist Berlin wieder gesund. Corona scheint Vergangenheit. Nur ich trage eine Maske, weil es in der Stadt, aus der ich vor drei Wochen angekommen bin, üblich ist, auch auf den Bahnsteigen Masken zu tragen, nicht nur beim Betreten der Waggons. Hier am Bahnhof Ostkreuz stehen fast alle (wieder?) dicht gedrängt. Zumindest nach meinem Empfinden. Vielleicht basiert aber auch das hiesige Abstandsgebot auf einem gefühlten und nicht auf einem metrischen Maß. So wie mir Berlin ja öfter als eine Stadt erscheint, bei der das Maß der Dinge durcheinander gerät zwischen Wunsch, Wirklichkeit und Wahlkampf-Wirren. Womöglich auch pure Selbstrettung. Sozusagen: Glaube nie deinem eigenen Stadtmarketing. Die Stadt, in der Labour seit Jahren dafür sorgt, dass Vermögende richtig Kasse machen. Die Stadt, die sich so gerne als deutsche Kulturhauptstadt generiert, obwohl es gar keine deutsche Kultur gibt, und falls doch, dann bliebe Berlin darin die Hauptstadt der Shoa, das historische Hauptquartier zweier Weltkriege und so weiter und so fort. Gestern bin ich am sogenannten neuen Schloss vorbeigefahren und mir fiel dazu nur ein: Preußen wurde zu Recht verboten. Was habe ich mit den Hohenzollern zu tun? Gruselig. Wahrscheinlich soll irgendwann auch der Marburger Obergrufti zurück (oder der Generalstab nach Potsdam). Ich wippe leicht, Hüpfmeditation. Zum Verscheuchen der Geister. Und Versuch eines esoterischen Anlockens der Bahn. Ich denke in die Zukunft, an das Café auf dem Heimweg, dort wo es Flaschenbier (für mich) und Latte Macchiato für die Einheimischen gibt. Den dazugehörigen Exkurs erspare ich mir an dieser Stelle. Eigentlich bin ich ja gar nicht nachtragend, sofern mich niemand spüren lässt, dass Reichtum den besseren Menschen markiert.

Ganz anders vor drei Wochen: Die ersten Tage hatte ich die Künstler*innen-Wohnung in der Viktoriastadt kaum verlassen. Home Office im Atelier. Das heißt: Viel lesen. Zuerst die kommunale Heimatgeschichte. Woher und warum wohin. Zu meinem Glück verkürzt sich in der ausliegenden Lektüre die Zeit zwischen 33 und 45 nicht auf einen Satz. Trotzdem werden kaum Namen genannt. Namen wären Nachrichten. Ich erinnere mich, dass das Berlin Document Center die Mitgliederdatei der NSDAP der Tatsache verdankt, dass der Münchner Aktenvernichtungsbetrieb die Akten nicht vernichtete, sondern versteckt und dann „den Amerikanern“ übergeben hat, die sie angeblich gar nicht recht wollten. Hingegen wollten sie nach der Wende die Akten aus der Normannenstraße in Lichtenberg. Hoffentlich kommen spätestens meine Urenkel in den Genuss der schon lange fehlenden spannenden James-Bond-Folgen, die in der Stürmung der Stasi-Zentrale gedreht werden könnten. Oder ein neuer John Le Carré: Post-Cold-War als eigenes Genre. Dann könnte ich kurz mitreden und sagen, ja ja, euer Großvater, obwohl Wessi, ist „gegauckt“ und auch „Rosenholz“-überprüft (vor Jahren war ich mal Beamter in Weimar). Wörter, die bald niemand mehr verstehen wird. So wie Bautzen längst Senf bedeutet. Zeitgeschichte quasi atem-nah, oder zumindest Oral History, die den schönen Schein des Kinos so authentisch macht. Und erst Karlshorst. Da wollte ich unbedingt hin (was ich dann nicht gemacht habe, zuerst war mir das gestellte Fahrrad zu groß, dann wiederum war kein Mietroller greifbar, dann wiederum zog es mich nach Neukölln in meine ehemalige Nachbarschaft). Karlshorst, so dachte ich, wäre für mich die symbolische Rettung von Frauenchiemsee. Auf dieser sicher schönsten Insel Bayerns, um die ich mit meinen Eltern oft genug gesegelt bin, befindet sich ein Scheingrab des Kriegsverbrechers Alfred Jodl. Die in Nürnberg zum Tode verurteilten Kriegsverbrecher haben ja keine Gräber, weil ihre Urnen-Asche von US-amerikanischen Truppen in bayerische Fließgewässer gekippt wurde. Nur Jodl hat einen Stein. Dank seiner sehr jungen Witwe (die der Nazi-General wohl in der deutschen Gesandtschaft bei Mussolini in Salò kennen lernte). Luise Jodl bezog bis Ende der 1990er-Jahre ihre Wehrmachtsgeneralswitwenrente. Und war es zusätzlich noch eine Rente aus ihrer Nachkriegstätigkeit für die juristische Fakultät der Münchner Geschwister-Scholl-Universität? Witwe Luise Jodl war Sekretärin. Nach einer anderen Sekretärin ist der Platz benannt, auf den ich von den Fenstern meiner Gastwohnung herunterblicken kann: Käthe Tucholla. Hingerichtet 1943 in Plötzensee von Jodls Regime-Kolleg*innen. Was heißt siegen? Also, in Karlshorst war ich nicht. Das Bild der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation hätte ich dennoch gerne in den Kopf gesaugt, für den Fall, dass ich nochmals wie ein kleiner Junge über Frauenchiemsee laufe oder das sepiabraune Foto meines Großvaters betrachte (er war frisch gegautschter Drucker und „blieb“ in Stalingrad). Statt in Karlshorst war ich in Neu-Hohenschönhausen, im Weitlingkiez und an vielen Orten, die ich nicht getrackt habe. In Neu-Hohenschönhausen habe ich mir die Ausstellung im studio im HOCHHAUS angeschaut. An ihr bin ich beteiligt. Mit einem Linoldruck (die Technik interessiert mich schon seit meiner IASPIS-Residency in Stockholm). Er zeigt zwei Pistolen: „Peng. Peng.“ Ein Bild-Zitat von Warhol. Seine Pistolen jedoch schießen nach links, meine nach rechts. In der Ausstellung hat der Kurator die Pistole so gehängt, dass sie auf die Zeichnung eines Hakenkreuzes zielt (die Zeichnung wiederum zitiert die Ritzerei einer Schulbank). In Neu-Hohenschönhausen fand ich besonders schön: die Radiator-Garagen.
Im Weitlingkiez habe ich viel fotografiert. Und darüber nachgedacht, wen ich hier wohl mal gekannt haben könnte. Ich war in Hoyerswerda-Neustadt, davor in Dresden, mehrfach in Wunsiedel, in Rudolstadt. Später auch in Rostock-Lichtenhagen. Anfang der 1990er-Jahre habe ich fast jeden größeren Nazi-Aufmarsch beobachtet, und keines ihrer Pogrome ausgelassen (doch eins: Mannheim!). Da waren auch welche aus dem Weitling-Kiez. Damals. Heute ist die Welt anders. Im Weitling-Kiez widme ich mich Steinen und Stadtmöbeln.

Heute Nachmittag mit einem Berliner Freund im Kiez unterwegs. Übrigens nicht zum ersten Mal. Vor Jahren waren wir mal in der Viktoriastadt auf einer Lesung aus den „Berliner Heften“ in einer Buchhandlung. Nachdem wir nun an der Buchhandlung (geschlossen) und einer Galerie (müssten wir zum Aufsperren klingeln) vorbeigelaufen sind, bewundern wir die Max-Taut-Schule Richtung Rummelsburg (noch kein Unterricht). Wir finden eine offene Gastro und setzen uns im Freien an einen großen Tisch zu einem Herrn. Kühles Bier in fast tropischer Hitze. Er erzählt, er wohne gegenüber im 3. Stock. Zu Corona habe er zuerst nur geschlafen, sagt er. Er sei einfach nur müde gewesen. Was ich so interpretiere, dass er fast dankbar sei für die Pandemie-Pause. Dass er eben vorher schon auf Kante lebte. Zu viel, zu schwer, zu schnell, zu wach. Zwangsurlaub?, frage ich nach. Ja, sagt er, lächelt, er sei viel mit der Freundin spazieren gegangen. Sehr schön. Und dann habe er endlich die Wohnung gestrichen. War schon lange geplant. Dann noch viel Filme angeschaut. Er fängt an, sich mit meinem Freund über die einzelnen Filme zu unterhalten. Arthouse. Nicht meins. Ich blicke mich um. Das Pärchen am Nebentisch steht auf und beginnt zu tanzen: Er sagt, Körperspannung, sie sagt, sie hätte Körperspannung. Er sagt: Kannst du Rumba? Sie sagt: Wir müssen mal tanzen gehen! Er sagt: Kannst du Rumba?

Am übernächsten Tisch erzählt eine Frau dem Wirt, sie käme aus Chile. Sie sei so dankbar, jetzt in Deutschland zu sein, in Zeiten von Corona. Ihre Schwester sei in Brüssel, ihre Mutter in Rom. Der Wirt bringt Nachschub: Er liebe jetzt viel mehr die frische Luft! Die Frau sagt: In dieser Pandemie, die Armen in Chile werden sterben. Sie wird unterbrochen: Woher bekommst du die Information? Sie verweist auf die Community, wie ein kleines Dorf. Als sie eine Wohnung gesucht habe, war es sehr hilfreich. Sie sagt: Ich bin seit 12 Jahren in Berlin, habe zuerst in der Warschauer Straße gewohnt, direkt („uff“). Nach der Trennung eben eine neue Wohnung gesucht. Wurde eine WG und von dort hierher, nach Lichtenberg. Andere erzählen, woher sie kommen. War hier, bin jetzt in Prenzlauer Berg. Sie kommt aus Karlshorst, arbeitet hier. Kommt gerne, weil hier gibt‘s Kümmelschnaps. Ich war ein halbes Jahr mal in Paris, meine Auslandsstory! Sie meint, dass ich so still sei wie ein Karpfen! Ich nicke und nippe an meinem Bier, setze die Maske auf, um auf die Toilette zu gehen. Der Wirt meint, „das brauchst Du hier nicht, wir sind eine Familie“. Zumindest im Innenraum ist außer ihm niemand. Gründliches Händewaschen. Zum Zeitmessen bete ich meist zwei Vaterunser oder rezitiere ein Gedicht. Das Gedicht ist eine Strafaufgabe aus der zweiten Klasse, weil ich eben das Vaterunser nicht auswendig konnte. Dieses Mal zur Abwechslung Vaterunser und das Gedicht. Müssten etwa 40 Sekunden sein. Andere, so habe ich gehört, rezitieren „Happy Birthday“, aber ich mag das Lied nicht und ein anderes kann ich nicht. Als ich zurück komme, geht‘s am Tisch um die Mandeloperation, in der Kindheit. Da hätte ich jetzt auch eine Geschichte beizusteuern. Über das Aufwachen aus der Narkose. Fürchterlich. Ich schweige dennoch. Der Wirt baut ab. Tisch für Bank und Bank für Tisch. „Sollen wir helfen“, fragt jemand, nein, sagt er, er brauche Sport! Die da hinten singen nun wieder… „Wenn ich einmal traurig bin, dann trinke ich noch ‘n Korn, wenn ich dann noch traurig bin, dann fang ich an zu schnorr’n… Schön dich wiederzusehen“, sagt sie (sozusagen nach Corona). „Mach‘s gut. Ja. Bis bald. Können wir noch zwei Kleine haben? Weißt du was gut ist: Wir haben beide einen sehr guten Musikgeschmack, meiner ist natürlich besser… lol. Komm doch mal rüber, ist so kalt. Sie summt wieder und sagt: Jetzt kommt Rammstein!“ Stattdessen kommt Polizei. Zwei Beamte, zwei Beamtinnen, aus einem Auto, ohne Maske, aber mit Schutzwesten. Sie grüßen, gehen ins Lokal.

Zurück zum ersten Tag. Corona-Zeit ist Eiscafé-Zeit. Sie sind die neuen Kulturzentren, so was wie Kino und Spielplatz in einem (nur ohne Rutsche). Bergwandern ohne Berg. Dafür süß! Der Ausflug ins Freie. Die Oper im ganz kleinen: Sehen und gesehen werden. In der Schlange achten die Eltern auf Abstand zu den anderen Eltern. Die Kinder laufen um die Erwachsenen herum, als wären sie Slalom-Fahnen. Berührungen. Knuddeln. Dann Eis. Das über die Finger tropft. Nicht immer. Gibt auch Becher. Herumsitzen. In Pärchen, in Kleinfamilien und Kernfamilien – in Mini-Grüppchen. Die Sichtweite suggeriert Solidarisches. In der Nähe des Eis-Ausschanks. Heißt es Ausschank? Nein. Kann nicht sein. Ausgabe! Eis ist ja was festes. Auf jeden Fall ist das eigentliche Eiscafé geschlossen, ein Brett in der Türe improvisiert die Theke. Während die propagierten pandemischen Schutzmaßnahmen auf den Lebensstil des gehobenen Landadels abstellen, bewahrt das Eiscafé den urbanen Rest: Immer, wenn ich auf die Straße gehe, begegne ich einem Menschen. Den ich nicht kenne. Daraus entsteht Zivilisation. „Dream Baby Dream“ glitzert es über den Busen der Bluse mit Strass-Applikation. Passend dazu, trägt er Hawaii-Hemd. Mit dunkelblaugrauen Shorts. Er schiebt den Kinderwagen. Im Abstand dahinter das nächste Grüppchen. Das Kind in einer Trage auf die Brust des Mannes gegurtet. Die Frau neben ihm telefoniert. Ein weiterer Mann trägt einen gelb-rot-blau-bunten Kinderroller. In die Gegenrichtung geht, ja läuft fast, ein Mädchen in seinem gelb-orangen Overall mit Aufnähern, die ich von hier aus nicht erkennen kann. Lange braune Haare, mit Haargummi zum Ponyschwanz gebändigt, trägt sie zwei Eis in der Waffel (in zwei Händen) und verschwindet flugs drei Hauseingänge weiter.

November, 2020