Siraj Izhar

Im Jahr 2016 wohnte ich im 10. Stock eines Wohnblocks in der Ruschestrasse Lichtenberg mit Blick direkt auf das alte Stasi-Hauptquartier, das damals vorübergehend syrische Flüchtlinge beherbergte. Es war, als hätte ich einen Manegenplatz für ihre Privatsphäre. So unterschiedlich unsere Lebensumstände auch sein mochten, in diesen Komplexen zu leben, dem System ausgeliefert zu sein – unsere Abhängigkeit von der Massenbürokratie und einem unpersönlichen Planungsmaßstab direkt zu erleben.
Etwas weiter nördlich der Ruschestrasse befanden sich die ausgedehnten Enklaven ehemaliger DDR-Wohnungen in Hohenschönhausen, Wartenberg, Ahrensfelde in Lichtenberg und auf der anderen Seite der Bahngleise in Marzahn, Hellersdorf. Und dorthin bin ich zurückgekehrt.

Soweit ich mit den Paradoxien des Wohnens im modernen industriellen Wohnungsbau vertraut bin, begannen sie mit Ideen über modernistische Utopien und sozialistische Träume. Aber egal, ob in den Banlieues von Paris oder in der stalinistischen Siedlung im ehemaligen Sowjetblock, je mehr Menschen in moderne Wohnungen gepackt werden, desto atomisierter werden sie. Laut dem Stadtsoziologen Henri Lefevbre liegt dies am Versagen moderner Planer, den Zusammenhang zwischen Alltag und sozialem Raum zu verstehen – und einen sozialistischen Raum zu bauen. Mit der Zeit verschwand also langsam die Ideologie, die hinter diesen Räumen stand.

Aber in der ersten Woche zurück in Lichtenberg besuchte ich auf einem stillgelegten Stück Grünfläche eine andere Vorstellung von Zuhause – ein selbstgebautes Haus, ein halb gebauter Schuppen mit Wegwerfholz von etwa 3 Meter mal 1 Meter. Es war teilweise vor dem Blick aus den Fensterreihen der modernen Plattenbauten aus den 70er-Jahren verborgen, aber es symbolisierte ein Zuhause frei von jeglicher Bürokratie: das unabhängige Leben der „Obdachlosen“. Ich fand einen makellos gedeckten Tisch, Bettdecken, Besteck – aber niemanden. Ich besuchte dieses selbstgemachte Heim Tag für Tag, fotografierte es, aber es war immer leer, sogar während der Weihnachtswoche.

Meine Erkundungen waren von Anfang an zweigespalten. Um sie in Neu-Hohenschönhausen zu überbrücken, versuchte ich einen direkten Eingriff über die Frage von Erinnerung und Ideologie zu machen, aber dies sind Räume, die Heimat sind. Dabei tauchten aus dem Hintergrund andere Fragen auf. Sie kamen mir ebenso bei den Pendelfahrten mit der S-Bahn und der Straßenbahn zwischen den Großsiedlungen. Es geht um sinnlose Fahrzeiten durch Vorstädte, die vorbeiziehen und verschwinden – was wir zu vergessen lernen. Aber für mich wurden die Fenster der Pendlerzüge zu reflektierenden Spiegen. Die Landschaften der Industriesiedlungen werden von außen gesehen, aus Autofenstern oder aus Zügen; für Menschen, die nicht dort wohnen, gelten sie als monotone Monumentalität oder Massenanonymität. Vergessbar. Zwischen der Unschärfe und den Reflexionen stellte sich die Frage, wie verloren sie für ihre eigene Erinnerung waren.

Mein Lichtenberg-Tagebuch wurde zu einer Reise zwischen den Begriffen des Vergessens und der Erinnerung. Dies setzte sich in den Wohnsiedlungen fort, wo Dinge aus dem Hintergrund sichtbar und konflikthaft wurden. Die Beziehungen zwischen einem volkstümlichen Volksmund, Vorstellungen von Heimat und Tradition, Eskapismus – und auf ihnen die Spuren von Straßen-Taggern. Ich begann, sie zu erkennen. Sie spielen ein doppeltes Spiel, gesehen zu werden und auch versteckt zu sein. Sie gehören zu einer sozialen Imagination außerhalb jedes institutionellen Raumes. Da war eine Sprache, eine Erkennung und eine Entdeckung. TRN, VZM, Fie2….
Wenn ich einmal etwas in einer Straße gefunden hatte, markierte ich es mit meinem Telefon auf Googlemap. Auf diese Weise konnte ich es wiederfinden, in Ahrensfelde, oder Wartenberg und so weiter. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie sind als versteckte Abschriften gedacht; vielleicht habe ich sie „geerntet“, aber es war ein vorübergehender imaginärer Raum, eine parallele Realität, die ich betreten hatte.

Ein visuelles Tagebuch ist etwas, das einen Lauf der Zeit aufzeichnet – es hat einen Anfang und ein Ende. An meinem letzten Tag am 31. Januar 2020 ging ich zu dem selbstgebauten Schuppen, wo ich damals startete, aber die Staatsbürokratie hatte ihn nach zwei Monaten bemerkt. Er war spurlos verschwunden. Vollkommen, auf eine Art und Weise, als ob es ihn nie gegeben hätte.
Aber überall, wo ich in Lichtenberg war, hinterließ ich meine Spuren – einen kleinen roten Stern. Man könnte sagen, es war das einzige, was ich während meines Aufenthaltes getan habe.

November, 2020