Lukas Troberg

Ankunft

Die einladende Kiezigkeit eines von mir als bisher noch nicht allzu lebendig abgestempelten Mischwaldes aus Beton, Backstein und Brache überrascht mich und zwingt mich dazu, vom ersten Moment an auf einen sehr genauen, dennoch weiten Blick zu achten.

Der Nachbar, der mir gegenüber im weißen Feinripp am Fenster steht und raucht, scheint mir bestätigend zuzunicken und schnippt die Zigarette lässig hinab.

der Rundlokschuppen

Dieser Ort übt noch weit über den Aufenthalt hinaus eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich aus.

Geplant von Johann Wilhelm Schwedler, gebaut um 1900, steht er heute noch in seiner vollen Schönheit und Pracht da, unbeeindruckt von Wind, Wetter und Zeit.

Das inzwischen vollständig abgedeckte Dach erinnert mich an eine Spinne von Louise Bourgeois, die sich schützend über mich stellt.

Ich sehe vor meinem geistigen Auge schon den Umbau des Gebäudes in Rummelsburg, mit zur Hälfte Wohnungen und zur Hälfte Ateliers mit der verwucherten Drehscheibe als Garten in der Mitte. Die perfekte Kombination von Urbanität und Wildnis, und das mitten in der Stadt.

Die Deutsche Bahn sieht allerdings meine Pläne nicht ganz so euphorisch. Man würde am liebsten die gesamte Anlage mit anliegendem Werksgebäude in wunderschönstem Backsteinbau abreißen, was jedoch am –wirklich unsäglichen– Denkmalschutz scheitert.

Dieser historische Lokschuppen ist einer der beiden letzten noch erhaltenen in Deutschland – der zweite, auch in Berlin, ist mittlerweile Eigentum des Möbel-Magnaten Kurt Krieger und somit auch dem sicheren Verfall gewidmet.

Es ist gut, nach langer Zeit des geistigen Winterschlafs wieder ein zartes Erwachen der Rebellion zu spüren.

Schon bald werde ich die Rotunde kapern.

der Friedhof

Ort der Pietät, der Ruhe.

Der bunte Gießkannenbaum ruft die Erinnerung an das kürzlich abgearbeitete Weihnachtsfest hervor; doch näheres Hinsehen lässt diese in Sekundenbruchteilen wieder verpuffen. Die feschen 1-€uro-Shop-Artikel sind wiederum mit weiteren 1-€uro-Shop-Artikeln gewissermaßen verheiratet, mindestens auf augenscheinlich untrennbare Weise verbunden.

Farbenfrohe Schlösser legen sich wie Banderolen um das Stahlgestell und die Gießkannengriffe und schaffen so ein Bild, das sich aus einem sonst eher in verschiedensten Grüntönen gehaltenem Ambiente deutlich hervorhebt.

Irgendwie absurd scheint mir die Idee, eines dieser Plastikbehältnisse zu befüllen, um damit einen mir ehemals nahen Menschen mit Wasser zu übergießen.

Und noch viel absurder, da einfach unglaublich Deutsch: Jede*r nutzt eine eigene Gießkanne, die aus Angst vor Diebstahl angeschlossen wird.

Für den Fall, dass eines Tages alle Hinterbliebenen gleichzeitig ihre Vorfahren gießen kommen wollten.

die Wohnanlage

Hoch hinaus erhebt sie sich, die Ecken so scharfkantig wie Korallen, die Fassade in spielerischem Rauputz.

Der vielleicht krasseste Gegensatz zur Bourgeoisen Rotunde; doch genau deswegen so prägend.

Im Gegensatz zum Klischee bietet Lichtenberg gefühlt vernachlässigbar wenige dieser kühlen, radikalen Ausformungen des modernen Städtebaus.

Ich bin angesichts der überraschenden Reichhaltigkeit an Altbauten, verlassenen Bahnanlagen, Backsteinbauten, Kirchen und weiten Flächen fast schon ein wenig verliebt in die vorherrschende pragmatische, Le-Corbusier-anmaßende Strenge.

Menschen habe ich hier tatsächlich wenige gesehen. Sie scheinen sich innen wohler zu fühlen; nicht wenig nachvollziehbar, bei um die Null Grad und trist-trauriger Grausuppe über uns.

Ich beschließe, kleine Versatzstücke, Erinnerungen, die sich –wie meine Träume– stark abstrahiert darstellen und seltsam magisch anmuten, als Interventionen im öffentlichen Raum zu installieren.

Das Bügelschloss, das sich an so manchem Brückengeländer findet; die markante Häuserkante; der achtlos weggeworfene Waschmaschinenschlauch. Die Kombination aus rund, warm, einladend mit der von kantig, kühl und abweisend.

Abfahrt

Wenn ich meinen Aufenthalt in Lichtenberg mit wenigen Worten beschreiben müsste, alle sich mir gebotenen Gegensätze, die sich gegenseitig aufheben und so eine unglaublich interessante Mischung verschiedenster Sinneseindrücke bieten, würde ich sagen: Ich habe in der kleinsten Version Europas, mitten in Berlin, gewohnt.

Februar, 2021