Birgit Szepanski

Spaziergangsnotizen und Female Sculpture

Was bedeutet es, als Künstlerin durch die Stadt zu gehen? Ist die Stadt für mich eine andere? Wo nehme ich Brüche und Spannungen in der Stadt wahr? In der Zeit der Pandemie ist die Stadt stiller und eine subtile Verunsicherung liegt in der Luft. Dieser neuen Realität spüre ich bei meinen Gängen durch Lichtenberg nach. Durch meine Beobachtungen und mein Gehen formuliert sich Schritt für Schritt ein Thema: die An- und Abwesenheit von Frauen in der Stadt.

In Lichtenberg stehen viele Frauenstatuen auf Grünflächen: Arbeiterinnen, Mütter- und Mädchenfiguren, die zwischen den Plattenbauten ein dekoratives, weibliches Personal bilden, das einen Teil der Stadtbevölkerung widerspiegeln sollte. Trotz der Idealisierung und Heroisierung, die von den Skulpturen ausgeht, besitzen die Frauenstatuen eine gewisse Aktualität, weil Frauen als Akteurinnen in der Stadt gezeigt werden. Sie bespielen die grünen Zwischenräume, an denen Wege zu den Plattenbauten entlang führen. Beim Anblick dieser Orte kann ich eine Utopie spüren, die Stadt anders gedacht hat, und ich frage mich, ob in der Zeit der Pandemie und einer Zeit danach diese utopische Areale der Stadt mehr Relevanz bekommen. Neben einer grüneren Stadt mit mehr Möglichkeiten für Spaziergänge und Draußen-Sein, gäbe es dann vielleicht auch einen Raum für eine weiblichere Stadt? Wie könnte diese aussehen?

Ich suche das Figurenensemble der Bildhauerin Emerita Pansowová im Rathauspark an der Frankfurter Allee auf. Mehrmals wurde die Frauenfigur der Skulpturengruppe Erben der Spartakuskämpfer (1987) umgeworfen, zerbrochen und renoviert. Die gekitteten Stellen ähneln Nähten, die ihren steinernen Körper durchziehen. Jemand hat mit grüner Farbe einen länglichen Fleck zwischen die Beine der Skulptur gesprüht hat. Es könnte ein phallisches Symbol sein. Die Ungewissheit und ein größer werdender Zweifel, die das Graffiti auslösen, lassen auf einmal die Frauenfigur ambivalent erscheinen. Am nächsten Tag gehe ich zum Ufer der Rummelsburger Bucht. An einem Bauzaun und an Bäumen fallen mir Papierkraniche auf, die mit Fäden dort angebunden wurden. Auf einem Zettel lese ich, dass hier ein Femizid stattfand. Die ermordete Frau wollte in Berlin eintausend Papierkraniche verteilen. Ich laufe weiter am Ufer entlang zum neuen Wohnviertel Berlin Campus, wo sich im 19. Jahrhundert die Rummelsberger Anstalt befand. Von der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, der NS-Zeit bis zur DDR wurden in diesem Gebäudekomplex Prostituierte, Wohnungslose, Homosexuelle, später auch Sinti und Roma und Regimekritiker zur Resozialisierung untergebracht, inhaftiert und verhört. Stelen mit Texten und Fotografien der Menschen erinnern an ihre Geschichten. Auf einigen Fotografien sind Frauengesichter unscharf dargestellt. Das Kaschieren macht ihre Verletzlichkeit, den fragilen Status ihres Lebens und die Unentrinnbarkeit der staatlichen Macht, der sie ausgesetzt waren, offensichtlicher. Diese Frauen sind mit dem Ort verbunden, obwohl sich ihre Spuren aufgelöst haben. Hier gibt es keine Graffitis und keine anderen zufälligen Spuren. Auch die Etablierung von Frauennamen als Straßennamen in diesem Viertel fällt auf kein lebendiges, historisches Fundament, sondern auf eine merkwürdige Leere. Hört hier Stadt auf?

In auf die Straße gestellten Kartons im Viertel Victoriastadt liegen Kleidungsstücke. Ich nehme eine taillierte Kunstfelljacke mit, weil sie mich an die Farbe und Struktur des Steines der Skulptur von Emerita Pansowová erinnert. An einem Tag spaziere ich durch das Areal der BLO-Ateliers und entdecke dort eine demolierte Skulptur. Ein weiblicher Akt mit fehlendem Arm und Fuß, auf der sich dunkelgrüne Flechten ausbreiten. Im Hintergrund zeichnen sich hinter winterlichem Geäst Lichtenbergs Plattenbauten ab. Diese urbane Situation ähnelt einer Bühne, die kein Publikum hat: Eine Brache zwischen Bahngleisen, Garagen und Weidenbäumen, an denen sich Holzlager und Metallreste sammeln. In meiner Erinnerung taucht Édouard Manets Figurensujet aus Le Déjeuner sur l’herbe (1867) auf. Und ich denke über die Verwandtschaft zwischen der nackten Frau in Monets Gemälde und der Skulptur auf dem Ateliergelände nach: Über das offensichtliche Ausgesetzt-Sein der Frauenfiguren in ihrer Umgebung. Die Frau in Monets Gemälde war die Malerin Victorine Meurent. Monet malte sie beispielsweise als Straßensängerin, Olympia und Die Dame mit dem Papagei, die auf dem Gemälde ein langes gelbes Kleid trägt. Nachdem Victorine für Monet nicht mehr Model stand, verarmte sie und ging als Bettlerin, mit einem kleinen Affen auf dem Arm, durch die Straßen von Paris und sammelte Geld.

Weil diese weiblichen Körper, die ich auf meinen Spaziergängen durch Lichtenbergs wahrnehme, angegriffen und deformiert wurden, formt sich in mir langsam eine Bildvorstellung für eine temporäre urbane Skulptur. Eine Skulptur aus Stoff, wolkenhaft, aber gegen äußere Umstände resistent. Einem Dummy ähnlich, der nach Stößen von Außen seine ursprüngliche Form wieder annimmt. Meine Female Sculpture ist ein amorphes gelb-grünes Stoffbündel, ein Gedanke – ein unfertiges Manifest.

März, 2021