Mark Lyon

Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
Aber wann, in welchem aller Leben.
sind wir endenlich offen und Empfänger?
Rainer Maria Rilke, Sonnets to Orpheus, II, V

Wenn ich jetzt an meine Erlebnisse in Berlin im vergangenen Oktober zurückdenke, muss ich meine Aufmerksamkeit auf die Schrebergärten richten, die ich zufällig in Lichtenberg entdeckt habe. So sehr wie der Hamburger Bahnhof, die Gemäldegalerie, das Bode-Museum, C/O Berlin, die Neue Nationalgalerie, die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, das Jüdische Museum Berlin und andere einen tiefen Eindruck auf mich gemacht haben, ist mir klar Heute weiß ich, dass es die Präsenz der Natur war, die sich in dem üppigen Laub und den leuchtenden Farben der Schrebergärten ausdrückte, die meine Fantasie beflügelte und mich in ihren Bann zog.

Wenn ich im Morgengrauen vom Atelier in Lichtenberg aus die Sonne aufgehen sah, bekam ich romantische Impulse, die ich noch nie zuvor in der Nähe einer Stadt gespürt hatte. Ich fuhr schnell mit dem Fahrrad zu den Gärten und Maisonetten 10 Minuten entfernt. Das Licht des frühen Morgens in Verbindung mit der Feuchtigkeit des Taus schärfte die Texturen und konzentrierte die Farben, erhöhte ihre Sättigung um ein Vielfaches und intensivierte auf unerwartete Weise meine Wahrnehmungen. Ja, die Farbe würde meine Residenz dominieren und besiegeln! Außerdem verblüffte mich die Fruchtbarkeit der dunklen Erde, sobald sie freigelegt war. Dieser schwarze Lehm erlaubte eine intensive Bepflanzung, die von persönlicher Fantasie und Leidenschaft geleitet wurde. Weder ein ästhetisches Modell noch eine Design-Doktrin schienen die Gestaltung des Grundstücks oder die Auswahl der Obst-, Gemüse- oder Blumensorten zu bestimmen. Die einzige Befugnis, in die Gestaltung einzugreifen, konnte nur persönlich und idiosynkratisch sein und von subjektiver Freude zeugen.

Das waren „grüne“ Bürger, die die Freiheit hatten, ihr Leben mit den frischesten Gemüsen und Früchten sowie mit Blumensträußen für den Tisch zu bereichern. Die Sorgfalt, mit der bestimmte saisonale Gemüse- und Obstsorten kombiniert wurden, bestätigte mir den Vorrang der Jahreszeiten. Außerdem waren die rustikalen Behausungen, die Ad-hoc-Konstruktionen und die volkstümlichen Erfindungen ein greifbarer Beweis dafür, dass Architektur ohne Architekten sowohl erstaunen als auch einen Zweck erfüllen kann.

Selbst die Vogelhäuser strotzten vor handwerklichem Einfallsreichtum. Der Komfort hat in diesen Gemeinschaften unzählige Ausprägungen, die an das Surreale grenzen. Jeder Morgen brachte neue Entdeckungen mit sich, eine neue Blüte hier, ein reifes Grün dort, eine zu Boden gefallene Frucht, den Zug der Vögel, den eindringlichen Ruf der hupenden Gänse – all das konnte der Passant beobachten. Wenn ich über die Zäune spähte, konnte ich genug farbige Energie für den ganzen Tag aufnehmen. Eine bemerkenswerte tägliche Nahrung, sowohl körperlich als auch geistig. Ich musste einen Blick darauf werfen, was sich während meiner Abwesenheit ereignet hatte. Hatte ein Frost den Boden bedeckt, welcher neue Vogel war gekommen oder gegangen, waren die Sonnenblumenkerne schon gefallen? Und die Freiheit, von einem Eindruck zum anderen zu wandern und schnell zu fotografieren, ohne dass die Wachhunde ihr Revier verbellen. Tatsächlich konnte jeder, der Augen hatte, dieses parzellierte Reich aus einer umfassenden Entfernung betreten und die Wunder der Natur bewundernd, vielleicht sogar ehrfürchtig, betrachten.

Alle Bilder: Mark Lyon, Berlin 2024

März, 2025