Peter Kees

Auf einem ersten Spaziergang entlang der Rummelsburger Bucht fielen mir zwei scheinbar verwaiste Einkaufswägen auf, gefüllt mit Plastiktüten, Kleidungsstücken und Schuhen. Sie wirkten wie soziale Ausrufezeichen neben den schmucken Neubauten, Townhouses, den Wohnstätten für Vermögende am Ufer der Spreebucht. Ich fotografierte die Fundstücke und erstellte mit einem der Bilder eine Vermissten-Anzeige, die ich mehrfach kopierte und eben dort an Laternenmasten und Hauseingängen aushing, versehen mit dem Text: „Vermisst – Einkaufswagen mit mehreren Tüten. Darin Kleidung, Schuhe. Für alle Hinweise bin ich dankbar. Der Inhalt dient dem Überleben. Zuletzt gesehen: S-Bahn Rummelsburg. Bitte melden unter der Telefonnummer 0176-48532440.“ Tatsächlich bekam ich einige Anrufe: Mein Wagen sei gefunden worden. Bei einer anderen Tour in der Buchberger Straße, eine eher unwirtliche Gegend, entdeckte ich an der Fassade des Berliner Rockhauses, ein ehemaliges Bürogebäude aus DDR-Zeiten, eine schäbige, zerschlissene Tüte aussen an einem Fenster hängend. Was mag sie beinhalten? Auch dieses Anti-Idyll lichtete ich ab, um ein weiteres Flugblatt anzufertigen, das ich in der Gegend um die Fundstelle aushing. „Gesucht – Tüte mit Wertsachen. Die Tüte selbst ist schon in die Jahre gekommen, hing an meinem Fenster in der Buchberger Straße (Berlin-Lichtenberg). Wahrscheinlich ist sie gestohlen worden. Darin war u.a. Bargeld. Bin für jeden Hinweis dankbar. Bitte melden unter der Telefonnummer 0176-48532440“, war darauf geschrieben. Wieder erreichten mich Anrufe: „Schau mal aus Deinem Fenster“, sagte einer. „Sonst nehme ich das Bargeld raus.“ Keine Anrufe erreichten mich hingegen bei der dritten Suchanzeige, die ich in der Gegend Frankfurter Allee, Ecke Schulze-Boysen-Straße aushing. „Gefunden – Braune Geldbörse aus Leder mit Bargeld und privaten Notizen hier ums Eck gefunden. Der Eigentümer möge sich unter der Telefonnummer 0176-48532440 melden.“ Auf dem Zettel war die Geldbörse abgebildet. Einige weitere Streifzüge durch den Bezirk hätten mich das Spiel mit dieser Art künstlerischer Interventionen noch an manch anderem Ort fortsetzen lassen können. Zurück an der malerischen Rummelsburger Bucht mit all den Gegensätzen zwischen moderner Wohnkultur, einfacher Hütten auf dem Wasser, auch Hausboote genannt, oder das in Wohnungen umwandelte Rummelsburger Gefängnis, 1877-79 als Arbeitslager entstanden, in der Zeit des Nationalsozialismus als Städtisches Arbeits- und Bewahrungshaus Berlin-Lichtenberg betrieben, in DDR-Zeiten als Haftanstalt (möchte man hier leben?), beschäftigte mich der grüne Zaun entlang des Wassers. Ein Biotop wird dort geschützt, der Lebensraum zahlreicher Tierarten an den Uferbereichen. „…jede Störung, wie z.B. Betreten, ist zu unterlassen. Zuwiderhandlungen werden ordnungsrechtlich verfolgt“, steht dort auf Schildern. Warum also nicht italienische Videoüberwachungs-Hinweisschilder an diesem Zaun anbringen, die mit ihrer gelb unterlegten schwarzen Kamera durchaus Signalwirkung entfalten. Hier also überwachen nun die Italiener. Ein absurdes Spiel, das Regelwerke menschlichen Miteinanders zum Thema macht. Berlin-Lichtenberg mit Stasi-Zentrale, dem asiatischen Großmarkt, dem Tierpark, den vielen Hochhäusern, manch unbehaglicher Ecke im grauen November mit seinem kurzen Licht zu erforschen, ist ein Unterfangen, das in drei Wochen höchstens rudimentär gelingen kann. Da wäre noch so viel, auf das man künstlerisch reagieren kann und sollte… Mitgebracht hatte ich etwas Niemandsland. Besser: ein mit dem Wort „Niemandsland“ bedrucktes rot-weißes Absperrband. Auf dem Weg zum Ring-Center fielen mir vier nahe beieinander stehende Bäume vor einem Hochhaus an der Frankfurter Allee, Ecke Gürtelstraße auf. Diesen Bereich erklärte ich zum Niemandsland und war erstaunt, dass es auch Tage später dort noch existierte. Eine Frage beschäftigt mich immer wieder: Was wäre, wenn Land niemandem gehören würde? Könnte man es noch erobern? Dabei geht es um Jean-Jacques Rousseaus Eigentumskritik: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: ‚Das ist mein‘ und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wieviele Verbrechen, Kriege, Morde, Leiden und Schrecken würde einer dem Menschengeschlecht erspart haben, hätte er die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugerufen: ‚Hört ja nicht auf diesen Betrüger. Ihr seid alle verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde keinem.“ Der Gegenstand betrifft die Frage nach Wohnraum wie nach kriegerischen Auseinandersetzungen gleichermaßen. Es geht um Ungleichheiten, um Konflikte. Heute ein rot-weißes Flatterband auf dem „Niemandsland“ steht um ein Gebiet zu spannen ist ein Eingriff in Eigentumsverhältnisse, zugleich eine Auseinandersetzung mit Rousseau, den existierenden gesellschaftlichen und politischen Ungleichheiten, auch mit den grausamen Kriegen der Gegenwart. Ich muss gestehen, ich habe den Bezirk auch mal verlassen: vor dem Café Moskau im Bezirk Mitte habe ich ebenfalls ein Niemandsland abgesteckt. Das dortige Niemandsland schlingt sich um ein Busstellenhäuschen. Lichtenberg mag es mir verzeihen, dass ich einmal untreu geworden bin.

März, 2025

Mark Lyon

Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
Aber wann, in welchem aller Leben.
sind wir endenlich offen und Empfänger?
Rainer Maria Rilke, Sonnets to Orpheus, II, V

Wenn ich jetzt an meine Erlebnisse in Berlin im vergangenen Oktober zurückdenke, muss ich meine Aufmerksamkeit auf die Schrebergärten richten, die ich zufällig in Lichtenberg entdeckt habe. So sehr wie der Hamburger Bahnhof, die Gemäldegalerie, das Bode-Museum, C/O Berlin, die Neue Nationalgalerie, die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, das Jüdische Museum Berlin und andere einen tiefen Eindruck auf mich gemacht haben, ist mir klar Heute weiß ich, dass es die Präsenz der Natur war, die sich in dem üppigen Laub und den leuchtenden Farben der Schrebergärten ausdrückte, die meine Fantasie beflügelte und mich in ihren Bann zog.

Wenn ich im Morgengrauen vom Atelier in Lichtenberg aus die Sonne aufgehen sah, bekam ich romantische Impulse, die ich noch nie zuvor in der Nähe einer Stadt gespürt hatte. Ich fuhr schnell mit dem Fahrrad zu den Gärten und Maisonetten 10 Minuten entfernt. Das Licht des frühen Morgens in Verbindung mit der Feuchtigkeit des Taus schärfte die Texturen und konzentrierte die Farben, erhöhte ihre Sättigung um ein Vielfaches und intensivierte auf unerwartete Weise meine Wahrnehmungen. Ja, die Farbe würde meine Residenz dominieren und besiegeln! Außerdem verblüffte mich die Fruchtbarkeit der dunklen Erde, sobald sie freigelegt war. Dieser schwarze Lehm erlaubte eine intensive Bepflanzung, die von persönlicher Fantasie und Leidenschaft geleitet wurde. Weder ein ästhetisches Modell noch eine Design-Doktrin schienen die Gestaltung des Grundstücks oder die Auswahl der Obst-, Gemüse- oder Blumensorten zu bestimmen. Die einzige Befugnis, in die Gestaltung einzugreifen, konnte nur persönlich und idiosynkratisch sein und von subjektiver Freude zeugen.

Das waren „grüne“ Bürger, die die Freiheit hatten, ihr Leben mit den frischesten Gemüsen und Früchten sowie mit Blumensträußen für den Tisch zu bereichern. Die Sorgfalt, mit der bestimmte saisonale Gemüse- und Obstsorten kombiniert wurden, bestätigte mir den Vorrang der Jahreszeiten. Außerdem waren die rustikalen Behausungen, die Ad-hoc-Konstruktionen und die volkstümlichen Erfindungen ein greifbarer Beweis dafür, dass Architektur ohne Architekten sowohl erstaunen als auch einen Zweck erfüllen kann.

Selbst die Vogelhäuser strotzten vor handwerklichem Einfallsreichtum. Der Komfort hat in diesen Gemeinschaften unzählige Ausprägungen, die an das Surreale grenzen. Jeder Morgen brachte neue Entdeckungen mit sich, eine neue Blüte hier, ein reifes Grün dort, eine zu Boden gefallene Frucht, den Zug der Vögel, den eindringlichen Ruf der hupenden Gänse – all das konnte der Passant beobachten. Wenn ich über die Zäune spähte, konnte ich genug farbige Energie für den ganzen Tag aufnehmen. Eine bemerkenswerte tägliche Nahrung, sowohl körperlich als auch geistig. Ich musste einen Blick darauf werfen, was sich während meiner Abwesenheit ereignet hatte. Hatte ein Frost den Boden bedeckt, welcher neue Vogel war gekommen oder gegangen, waren die Sonnenblumenkerne schon gefallen? Und die Freiheit, von einem Eindruck zum anderen zu wandern und schnell zu fotografieren, ohne dass die Wachhunde ihr Revier verbellen. Tatsächlich konnte jeder, der Augen hatte, dieses parzellierte Reich aus einer umfassenden Entfernung betreten und die Wunder der Natur bewundernd, vielleicht sogar ehrfürchtig, betrachten.

Alle Bilder: Mark Lyon, Berlin 2024

März, 2025