Lotto in Lichtenberg
Alan Perez hat den Bezirk auf sehr persönliche Weise kennengelernt – und mit seinem Projekt ganz verschiedene Orte und Bewohner wie Besucher Berlin-Lichtenbergs künstlerisch verbunden. Bei seinen Wegen durch den weiträumigen Bezirk hat er auf der Straße Menschen angesprochen und sie gebeten, Lottofee zu spielen. Die Holzkugeln, die sie aus einer eigens bedruckten „Lichtenberg Lotto Travel“ – Jutetasche zogen, waren mit den Namen von Haltestellen der öffentlichen Verkehrsmittel und von Ortsteilen in Lichtenberg beschriftet. Danach bat er noch um ein Selfie von Ziehperson und Kugel, das später ausgestellt wird.
(Bei weitem nicht nur) imaginäre Beziehungen zwischen den Menschen, dem Ort an dem sie gerade waren und den zufällig gezogenen Orten auf den Kugeln wurden so quasi automatisch hergestellt.
Nicht wenige der zufälligen Teilnehmer des Kunstprojektes hatten eine Geschichte zu erzählen: „Ich war 1988 ein Jahr im Stasi-Knast“ berichtete ein freundlicher Herr in fließendem Englisch an der sonnendurchfluteteten Rummelburger Bucht, als er die Kugel „Hohenschönhausen“ zog. Eine Frau auf der S-Bahnbrücke in Neu-Hohenschönhausen zog die Kugel „Nöldnerplatz“, und ihre Augen leuchteten, da ihre Schwester dort wohnt. „Vielleicht bringt mir das ein bißchen Glück“ sagte sie noch, bevor sie mit dem Fahrrad weiterfuhr. Verblüfft über das Zusammentreffen waren sowohl der Künstler aus dem britischen Gibraltar sowie ein Geschäftsreisender aus London, der sich nur für wenige Stunden in Berlin aufhielt – und das ausgerechnet vor dem Einkaufszentrum am Tierpark.
Aber nicht nur offenherzige Reaktionen, die Bereitschaft zur Teilnahme und eine kleine Geschichte, die das Experiment würzte und unterfütterte, waren zu erleben – schroffe, schnelle Ablehnung von gehetzten Bürgern, ein unfreundliches „Wir kaufen nichts“ von klassischen älteren Männern auf einer Parkbank oder einfach nur deutlich zur Schau gestelltes Mißtrauen im Angesicht des Angebotes von Kommunikation mit einem Fremden, Teilhabe an Kunst und auch der fotografischen Dokumentation des Ganzen waren an der Tagesordnung. Auch diese Reaktionen zeichnen das Bild einer städtischen Gegend, die von ihrer Geschichte genauso wie von ihrer Architektur emotional geprägt ist.
Ein vielsagendes Portrait der Bevölkerungsstruktur Lichtenbergs ist trotzdem entstanden – Linien zwischen ganz unterschiedlichen Orten und Gesichtern wie Geschichten. Von freilaufenden Affen, einem großen Felsen und einer Flugzeuglandebahn, die sich mit einer Verkehrsstraße kreuzt, hatten übrigens auch in Lichtenberg schon einige gehört. Mit der Ausstellung ihrer Selfies in Gibraltar sind sie und ihr vielfältiger Bezirk nun mit diesem so besonderen Ort am Ende Europas nun genauso verbunden wie Alan Perez mit Lichtenberg, dessen Diversität zwischen Platte und saniertem Altbau er so schnell nicht vergessen wird. (Max Sudhues, Juli, 2016)